Zores: Musik abseits aller Hörgewohnheiten Jeden 1. Dienstag im Monat 21 - 24 Uhr bei Radio Z 95,8 MHz |
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Carl-Ludwig Reichert, Folk dtv
premium, 2008 - 259 S., € 14,90 Folk
ist ein Steinbruch, aus dem Viele sich bedienen. Das Gelände
ist gross und unübersichtlich und Carl-Ludwig Reichert, der Münchner
Musiker und Publizist, hat versucht, das Gelände zu erkunden
und für alle Interessierten zugänglich zu machen. Schon die
Frage, was denn ein Folksong sei, wird von ExpertInnen durchaus
unterschiedlich beantwortet. Mindestens alt soll er sein, ländlich
traditionell, aber auch wandelbar und sich den Zeitläuften
entsprechend, erneuernd. Urheberschaften sollten sich tunlich im
Dunkeln verlieren, was spätestens im 20. Jahrhundert mit seinen
Copyright Laws zu merkwürdigen Konsequenzen führen sollte. Überhaupt
dieses Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das die
Folk Music aus ihren Schlupfwinkeln und Löchern hinter den Wäldern
zerrte, ein, zwei, mehrere Wellen von Wiederentdeckungen
hervorzauberte, sich und viele Musik elektrifizierte und
schliesslich Rock
und Pop zum Durchbruch verhalf - konnte Folk da noch bleiben,
was er zu sein hatte? Claus-Ludwig Reichert, mit Sparifankal
selbst einschlägig unterwegs, vermag diese und viele andere
Fragen kenntnisreich, mit Querverweisen und eindeutigen
Stellungnahmen zu beantworten. Ein geschichtlicher Rückblick führt
ins 18. Jahrhundert, wo zumeist von geistlichen Herren die
unbeachteten Schätze der Volkskultur wiederentdeckt und bewahrt
wurden (zB Thomas Percy, Reliquies of Ancient Britisch Poetry, 3
Bände 1765). In Deutschland tatens ihm die Herren Herder und Bürger
nach und wurden sogleich vom Spötter Nicolai karikiert. Dessen
Werk hatte übrigens mehr Einfluss, da ihm Noten beigegeben
waren, was von anderen Herausgebern, weil zuzeiten bekannt, als
unbeachtlich abgetan wurde. Und die Zensur fasste sogleich Fuss,
auch das ein Thema, das Volkes lockere Stimme bis ins 20.
Jahrhundert nicht mehr verlassen sollte. Sexuell Eindeutiges,
aber auch Antiklerikales und überhaupt Aufmüpfiges wurde aus
den Sammlungen entfernt und musste bis auf weiteres mündlich
zirkulieren. Noch in unseren Zeiten muss Reichert zufolge manch
Einschlägiges aus dem Internet heruntergeladen werden, weil es
anders nicht verfügbar ist. Es sei denn, mensch geht aufs
Konzert oder singt und spielt selbst, eine Haltung, die der
Autor lebhaft befürwortet. In
den USA, dem Land, mit dem der Begriff Folk Music am stärksten
konnotiert ist, kam das Interesse an der Musik des Volkes erst
spät. Es war ein Bastard aus der Musik der Herkunftsländer,
der sich zu eigenständigen Formen entwickelte. Erst Ende des
19. Jahrhunderts machte sich die Wissenschaft daran, das Terrain
zu erforschen und setzte merkwürdige Schwerpunkte, denn für
einen Pionier wie Prof. Childs galt allein das Balladengenre als
würdig. Es war auch gleich, denn die Akademiker forschten und
die Subjekte ihres Interesses machten ihre Musik.
Einschneidender war da schon die aufkommende
Schallplattenindustrie, die preiswert Musik allseits verfügbar
machen konnte und für die Produzenten grosses Geld. Reichert
arbeitet diese Entwicklungsstränge lesenswert und mit grosser
Detailkenntnis heraus. Die alte Theorie, dass der Kontakt mit
der städtischen Zivilisation jeden Folksong killt, liess sich
nicht mehr halten. Weiter ging es über Leute wie Kittredge,
John und Allan Lomax und Carl Sandburg, die das Genre Folk in
seiner ganzen Breite erforschten und zugänglich machten. 1928
nahm das Archive of American Folk Songs der Kongressbibliothek
seine Arbeit auf. Auch erste Festivals wurden gegründet. Und es
kommt die Frage auf, ob es wirklich neue Folksongs geben kann,
nicht nur neue Texte zu alten Liedern. Mit Woodie Guthrie spätestens
wurde sie wohl beantwortet. Pete Seeger wiederum erweiterte das
denkbare Repertoire um vieles, das inzwischen unter dem
schwammigen Titel Weltmusik läut, aber im besseren Sinn meint:
Stimmen anderer Völker. Die Geschichte ging weiter und Reichert
versieht sie dankenswerterweise zugleich mit einer anregenden
Discographie. Und das Ding Folk wurde grösser, selbst als der
Verdacht aufkam, die meisten Folksinger wären verkappte
kommunistische Verschwörer. Die Krise trat erst offen zutage,
als Bob Dylan 1965 in Newport seinen elektrifizierten Auftritt
hatte und Beatles und Stones den Durchbruch von Pop und Rock auf
breiter Ebene einleiteten. Es hatte, Reichert belegt es,
schlimme Folgen und nennt Namen. Und Gegenbeispiele, wie die
Grateful Dead und Jefferson Airplane, die versuchten, das Beste
aus beiden Welten zu vereinen. Danach kommen, was Folk im
eigentliche Sinn angeht, schlechte weil durchkommerzialisierte
Zeiten mit vereinzelten Lichtblicken. Und Folk-Stars, ein
singender Widerspruch eigentlich, aber durch Joni Mitchell, Joan
Baez oder Bob Dylan überzeugend verkörpert. Nebenbei: In kaum
einer anderen populären Musikrichtung dürfte der Anteil an
Frauen so einigermassen hoch und selbstverständlich sein wie im
Folk. Carl-Ludwig
Reichert beschreibt die Misere mit reichlich Sympathie für all
diejenigen, die die Flamme Folk gegen alle Widrigkeiten und mit
Eigensinn am Leben hielten und spart nicht mit Hinweisen für
alle, die mehr dazu lesen und vor allem hören wollen.
SpezialistInnen mögen bemängeln, dass es zumeist nur bei einer
Plattenempfehlung bleibt, aber für die ist das Buch eher nicht
gemacht. Es richtet sich an alle LeserInnen, die wissen möchten,
was das ist, dieses bunte, inzwischen in manchen Maskeraden
auftretende Folk-Ding. Und erfahren Aufklärung: Neo-Folk ist
trotz des Namens rechtstümliches Geklampfe mit
Industrial-Wurzeln, Antifolk dagegen steht dem genuinen Folk
ziemlich nahe, getränkt vom Geist des DIY, genährt von
Unbehagen an der Welt und konsquent Low-fi upgedatet. Grosse
Kapitel sind der Folk Music Britanniens, Schottlands und Irlands
gewidmet, auch hier ergänzt durch hilfreiche Handreichungen.
Wobei der Plattenindustrie einmal zugute zu halten ist, das sie
auch öfter Rares und Entlegenes wiederveröffentlicht. Letzte
Abschnitte gelten schliesslich den Deutschen Zuständen, die
Reichert als Musiker und Rundfunkredakteur bestens kennt. Das
Festival auf Burg Waldeck und die damit zusammenhängenden
Entwicklungen bieten Anlass für interessante Rückblicke und es
freut den Rezensenten sehr, dass unter aufgeführten Querköpfen
und Eigenbrötlern Julius Schittenhelm zu finden ist. Sonst gilt
es nach wie vor, ästhetische Debatten zu führen, denn wie tümlich
darf diese Musik gerade hier sein? Und das Terrain weder der
schimmelgleich in alle Musikrichtungen einsickernden Rechten zu
überlassen noch der Verblödungsindustrie jedweden Kalibers.
Graswurzelrevolution ist angesagt, aber ein guter Rasen braucht
ja, bis er gedeiht. Einstweilen gehen wir zu Konzerten und hören
Musik, vielleicht von Espers, Dr Eugene Chadbourne, Old Man
Luedecke oder Devendra Banhart. Oder aus der näheren Umgebung:
Johanna Zeul, Blechgitarr´Vinz oder Da Huawa, da Meier und I. Carl-Ludwig Reichert ist mit diesem Buch eine spannend zu lesende, anregende Übersicht gelungen. |